Literaturnobelpreis 1966: Samuel Josef Agnon — Nelly Sachs

Literaturnobelpreis 1966: Samuel Josef Agnon — Nelly Sachs
Literaturnobelpreis 1966: Samuel Josef Agnon — Nelly Sachs
 
Agnon wurde geehrt für seine »charakteristische Erzählkunst mit jüdischen Motiven«; Nelly Sachs für ihr außergewöhnliches lyrisches Werk.
 
 Biografien
 
Samuel Josef Agnon (eigentlich Schmuel Josef Halevi Czaczkes), * Buczacz (Galizien) 17. 7. 1888, ✝ Rehovot (Israel) 17. 2. 1970; 1908 Auswanderung nach Palästina, ab 1913 Aufenthalt in Deutschland, 1924 Wohnsitz in Talpiot bei Jerusalem, 1931 Erscheinen einer Gesamtausgabe, Mitglied der Hebrew Language Academy, 1954 und 1958 Israel-Preis für Literatur, 1962 Ehrenbürger von Jerusalem.
 
Nelly Sachs, * Berlin 10. 12. 1891, ✝ Stockholm 12. 5. 1970; 1940 Emigration nach Schweden, 1961 erste Preisträgerin des nach ihr benannten Nelly-Sachs-Preises, 1965 Friedenspreis des Deutschen Buchhandels.
 
 Würdigung der preisgekrönten Leistung
 
Agnon ist der erste und bislang einzige Preisträger, der seine Werke in hebräischer Sprache verfasst hat (aber nicht der einzige, der aus der jüdischen Tradition kommt). In Israel genießt er den Status eines Klassikers: Sein Haus im südlichen Jerusalemer Stadtteil Talpiot ist ein Museum, sein Porträt ziert eine Banknote, und die Literaturwissenschaft betrachtet sein Werk als Höhepunkt einer Literatur, die die moderne Welt darzustellen unternimmt und dabei nicht nur die vorhandene Sprache verwendet, sondern sie neu schafft, heutigen Anforderungen anverwandelt.
 
Agnon ist im galizischen Buczacz (damals Österreich-Ungarn) aufgewachsen. Von der ersten nach seiner Einwanderung nach Palästina veröffentlichten Erzählung »Agunot« (hebräisch; Seelenverbannung; 1908) leitete er sein Pseudonym Agnon (»der Gebundene«) ab. Bei seinem mehrjährigen Aufenthalt in Deutschland seit 1913 hatte er prägende Begegnungen mit Mitgliedern der so genannten »Jüdischen Renaissance«, etwa Gershom Scholem und Martin Buber, vor allem aber Salman Schocken, dem Gründer eines Kaufhauskonzerns und bedeutenden Förderer jüdischer Kultur, der ab 1914 sein Mäzen, ab 1931 auch sein Verleger war.
 
 Die Hauptwerke — in Jerusalem entstanden
 
1924 kehrte Agnon nach Palästina zurück. In Jerusalem entstanden seine wichtigsten Romane: »Bräutigamssuche« (1931) ist ein jüdischer Schelmenroman in der Nachfolge »Don Quijotes«, der, im Galizien des 19. Jahrhunderts angesiedelt, die Irrfahrten des Reb Judel auf seiner Bräutigamsuche für seine drei Töchter erzählt. »Nur wie ein Gast zur Nacht«, das zuerst 1938/39 als Fortsetzungsroman in Schockens Zeitung »Ha'aretz« erschien, berichtet von den Erlebnissen eines nach Palästina Ausgewanderten, der seine galizische Heimat Szybucz besucht und dort den Zerfall der jüdisch-chassidischen Welt seit dem Ersten Weltkrieg beobachtet. Dieser Roman ist oft als symbolische Vorwegnahme des Endes des Ostjudentums in den 1940er-Jahren wahrgenommen worden. In »Gestern, Vorgestern« (1945) wird — in teils surrealistischer, an Cervantes und Kafka erinnernder Weise — das Scheitern des Palästina-Einwanderers Jizchak Kummer auf seiner Suche nach dem »wahren« Israel vorgeführt. Agnons Werk ist durch zwei historische Bezüge geprägt: Israel, das Land der messianischen Verheißung und aller Zukunftshoffnungen, und Galizien, die untergegangene Welt des Schtetl. Agnon pendelt zwischen den beiden kulturellen Bezugssystemen der jüdischen Tradition und der modernen westeuropäischen Welt.
 
Die Schwedische Akademie hat die Zuerkennung des Preises mit der Hoffnung verknüpft, Agnon über die Sprachgrenzen hinaus bekannt zu machen. Dies hat sich nur begrenzt erfüllt, nicht zuletzt aufgrund von Übersetzungsproblemen — schon in den 1930er-Jahren beklagte dies der Lektor des Schocken-Verlags: Die zahllosen Zitate aus jüdischen Traditionstexten sind kaum angemessen übertragbar, und ein Verständnis für die Tiefendimensionen setzt zudem genaue Kenntnis dieser Tradition voraus. So entspricht seine internationale Bekanntheit, trotz inzwischen zahlreicher Übersetzungen, nicht seiner wirklichen Bedeutung.
 
 Nelly Sachs: Stimme eines geschundenen Volkes
 
Der literarische Werdegang von Nelly Sachs ist ungewöhnlich: Als 1947 ihr erster Gedichtband »In den Wohnungen des Todes« erschien, war sie bereits 55 Jahre alt. Zuvor veröffentlichte sie nur spärlich: den Prosaband »Legenden und Erzählungen« und vereinzelt Gedichte in verschiedenen Zeitungen. Nach 1933 blieb ihr lediglich die Möglichkeit, ihre Schriften in jüdischen Zeitschriften zu publizieren.
 
 Flucht vor den Nazis
 
1940 erhielten sie und ihre Mutter dank der Fürsprache Selma Lagerlöfs (Nobelpreis 1909) die Erlaubnis, nach Schweden zu emigrieren. Zur gleichen Zeit erreichte sie der Gestellungsbefehl in ein Arbeitslager — das sichere Todesurteil. Doch ein gnädiger Gestapobeamter, legte ihr nahe, den Befehl zu zerreißen und Deutschland mit dem nächstbesten Flugzeug zu verlassen.
 
Im Angesicht des Holocaust fühlte sich Nelly Sachs berufen, über das grausame Schicksal der Juden zu berichten. Sie sah sich weniger als Dichterin denn als Stimme eines geschundenen Volkes. In dem Gedichtband »In den Wohnungen des Todes« finden sich Wehklagen, Gebete und Nachrufe auf ihr bekannte Menschen, die in den Konzentrationslagern ermordet worden waren. Die expressiven, reimlosen Gedichte beklagen das Unfassbare und enthalten eine Fülle von ungewöhnlichen, aber dennoch leicht zugänglichen Metaphern.
 
Nach dem Erscheinen ihres ersten Werks modifizierte Nelly Sachs Stil und Inhalt ihrer Lyrik. Mehr und mehr nahm sie Themen aus der jüdischen Mystik in ihre Gedichte auf, die zuweilen mit prophetischen Sinnsprüchen beginnen. Gern bedient sie sich des Stilmittels, einen Begriff oder ein Gefühl mit einem Gegenstand zu verweben, sodass ein einprägsames Bild entsteht.
 
 Erfolg in Deutschland
 
Ihren Durchbruch in Deutschland schaffte sie im Jahr 1959 mit dem Band »Flucht und Verwandlung«. Dieser Erfolg war zu einem großen Teil Alfred Andersch, Hans Magnus Enzensberger und Peter Hamm zu verdanken, die Nelly Sachs im westdeutschen Literaturbetrieb protegierten.
 
Ab 1961 werden die Gedichte mit der Sammlung »Fahrt ins Staublose« auffällig kürzer und die Metaphern wieder klarer. Der Bezug zur Wirklichkeit nimmt zu und lyrische Themen wie Liebe, Leben, Gott und Tod stehen vorwiegend im Mittelpunkt. Häufig enden die Gedichte offen mit einem Gedankenstrich; ein Hinweis darauf, dass nicht alles durch Sprache ausgedrückt werden kann.
 
Nelly Sachs veröffentlichte außerdem 14 Theaterstücke. Sie gelten als schwer spielbar; lediglich »Eli« (1962 in Dortmund uraufgeführt) und »Nachtwache« (1972 in Soltau uraugeführt) waren auf einer Bühne zu sehen.
 
G. Weinreich

Universal-Lexikon. 2012.

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